ROCK 'N' ROLL REBEL FILMMAKER
Retrospektive George Armitage
Wenn vom amerikanischen Kino der späten 1960er und 70er Jahre die Rede ist, dann drehen sich die Gespräche in der Regel um das New Hollywood. Und gelegentlich wird dann noch die Geburt des Blockbusters aus den Kindheitserinnerungen und Phantasien Steven Spielbergs und George Lucas’ erwähnt. Aber die ›American Renaissance‹, wie der Kritiker Armond White diese wahrhaft einzigartige Epoche nennt, hat eben nicht nur Francis Ford Coppolas »Godfather«-Filme und Robert Altmans »Nashville« oder »Jaws« und »Star Wars« hervorgebracht. Sie hatte noch ein ganz anderes Gesicht. Quasi im Schatten des New Hollywood erlebt der amerikanische B-Film seine letzte echte Blüte. Männer wie Roger Corman und sein Bruder Gene, der in den 70er Jahren die B-Unit von MGM leitete, griffen mit ihren meist extrem schnell und mit wenig Geld produzierten Filmen jeden Trend auf, der gerade en vogue war. So wurde das Genrekino zum eigentlichen Spiegel jener Jahre. In den oft extrem exaltierten Action-, Blaxploitation- und Gangsterfilmen der 70er Jahre offenbart Amerika sein wahres Gesicht. Und niemand hat es besser verstanden, den Geist dieser und auch der folgenden Dekaden in teils satirischen, teils ikonischen Filmbildern einzufangen, als der Drehbuchautor und Regisseur George Armitage.
Wahrscheinlich ist das auch einer der Gründe, warum der 1942 geborene Filmemacher trotz »Miami Blues« und »Grosse Pointe Blank« bis heute einer der großen Unbekannten des amerikanischen Kinos geblieben ist. Seine Filme treffen eben wirklich den Nerv ihrer Zeit ... und das kann wie im bitteren Finale seiner kongenialen Verfilmung von Charles Willefords »Miami Blues« nun einmal ziemlich schmerzhaft sein. »America the Beautiful«, von diesem Mythos bleibt in Armitages Filmen nicht viel übrig. ›God’s own country‹ ist in Wahrheit das Land der Geschäftemacher und der Betrüger, der Killer und der Soziopathen. Hier versucht jeder, sich einfach zu nehmen, was er will. Die Gangster in »Hitman«, die Vietnam-Veteranen in »Vigilante Force«, der Root-Beer-Magnat in »Hot Rod«, all die betrogenen Betrüger in »The Big Bounce«, seiner vom Studio
fast bis zur Unkenntlichkeit umgeschnittenen und entschärften Elmore Leonard-Verfilmung, und natürlich Alec Baldwins Fred Frenger Jr. aus »Miami Blues«, sie alle stehen für ein Amerika, das sich immer nur selbst belogen hat. Der wilde Westen, das ist keine Epoche, sondern ein Bewusstseinszustand, und der hat sich seit den 1870er Jahren kaum verändert.
Wie Jonathan Kaplan und Jonathan Demme, die Hollywood in den 80er und 90er Jahren schließlich ihren Stempel aufdrücken konnten, war auch George Armitage ein Protegé Roger Cormans. Er hat nicht nur das Drehbuch zu Cormans 1970 entstandener und immer noch unterschätzter Counterculture-Satire »Gas-s-s-s« geschrieben. Er war es auch, der 1971 mit seinem Regiedebüt »Private Duty Nurses« und ein Jahr später mit dem Drehbuch zu Jonathan Kaplans »Night Call Nurses« Cormans Exploitation-Reihe einen subversiven Touch gegeben hat. Die Revolution, die in den Straßen der Vereinigten Staaten trotz des Vietnam-Krieges und seiner unzähligen Opfer ausblieb, fand plötzlich auf den Leinwänden der Grindhouse-Kinos statt ... noch zaghaft in »Private Duty Nurses«, in dem ein afroamerikanischer Arzt seine Wut angesichts des ganz alltäglichen Rassismus schließlich lernt zu kanalisieren. Aber in »Night Call Nurses« schlägt sich Armitage endgültig auf die Seite der Außenseiter und Rebellen, die mit allen Mitteln für ein anderes Amerika kämpfen. Der B-Film und das Exploitation-Kino als die wohl letzten Bastionen subversiver Kunst, die kompromisslos Stellung bezieht und doch von einer unerhört spielerischen Leichtigkeit erfüllt ist. Alles Dogmatische war George Armitage von Anfang an gänzlich fremd. Auch darin ist er ganz Schüler Roger Cormans. Wie sein Mentor war er stets darauf bedacht, das jeweilige Pensum eines Drehtages so schnell wie möglich zu erledigen. Die Zeit, die dann noch mit den Schauspielern bleibt, lässt Raum für Experimente und Improvisationen.
»Nicolas Ray always said the working title of each of his films was »I‘m a Stranger Here Myself«, which would be perfect
for any of Armitage‘s movies.« John Cribbs, The Obscure Genius Series
Das Drehbuch versteht er dabei lediglich als eine Art Rahmen, aus dem es zu fallen gilt. Nur so kann das Kino zu einer Offenheit finden, die den gesellschaftlichen und politischen Status quo in Frage stellt. Wenn John Cusacks Martin Blank und sein von Dan Ackroyd gespielter Kontrahent in »Grosse Pointe Blank« aufeinandertreffen, gelten keinerlei Regeln mehr. Mit einmal ist tatsächlich alles möglich. Cusack und Ackroyd brechen in diesen Momenten der Freiheit regelrecht aus sich heraus. Allein ihr Spiel lässt eine erstarrte Welt, die sich ganz dem Kommerz ergeben hat, in Flammen aufgehen. Die Kugeln, die schließlich während ihres wüsten Showdowns eine Vorstadt-Villa in einen Kriegsschauplatz verwandeln, sind kaum mehr als Beiwerk.
Immer wieder geben sich die Schauspieler in Armitages Filmen dem Rausch des Moments hin. So können sie zusammen mit ihm in Regionen vorstoßen, in denen das Satirische eine enorme, die eigenen Grenzen sprengende Kraft entwickelt. Nur wer den amerikanischen Albtraum wie etwa in den Actionszenen in »Vigilante Force« oder den kriminellen Eskapaden Fred Frengers bis ins Groteske überzeichnet, wird letztlich
wieder aus ihm Erwachen. Auf der anderen Seite des Wahnsinns kann dann vielleicht sogar ein neuer Traum beginnen.