Isild Le Besco

The Kingdom of Childhood

»Die Ausgrenzung aus dem Königreich der Kindheit wird manchmal als Exil erlebt, manchmal als unnatürlicher Zugang zu einer wünschenswerten Reife. Vielleicht umgeht »Demi-Tarif« diese Alternative aufgrund des jungen Alters seiner Regisseurin«, schrieb vor zwanzig Jahren Mia Hansen-Løve in ihrer Kritik zu Isild Le Bescos Regiedebüt »Demi-Taif« im Cahiers du Cinéma. Le Bescos Zugang zum Filmemachen hat sie schon mit dem Blick auf ihren ersten Spielfilm im Kern seiner Einzigartigkeit erfasst. Der Instinkt dieser jungen Filmemacherin, die gerade mal 21-jährig schon auf eine außerordentliche Karriere als Schauspielerin zurückblicken konnte, ihr Zugang zum Medium, mit dem sie keine Geschichten erzählt, sondern Geschichten mit der Kamera einfängt, kreist immer wieder um diese Zeit der Adoleszenz. Und weil sich die Vermutung von Hansen-Løve, diese magische Andersartigkeit ihrer Erzählweise auf das junge Alter der Regisseurin abzuleiten, nicht bewahrheitet hat, finden wir in dieser Kritik zu Le Bescos erstem Film glücklicherweise das Wesen ihres gesamten Werkes auf die schönste Weise erfasst: »Instinktiv versteht Isild Le Besco auch, dass man die Kindheit nicht enthüllt, indem man eine chimäre Innenwelt sucht. Statt sie als einen Inhalt zu behandeln, der erforscht werden muss, beschreibt sie die Kindheit in ihrer Beziehung zur Zeit. Denn es handelt sich um eine bestimmte Erfahrung von Zeit, und darüber zu erzählen, birgt die Gefahr das Geheimnis ihrer unvernünftigen Süße zu erklären.« Mia Hansen-Løve, Cahiers du Cinéma. Es scheint als würde die Filmemacherin Le Besco sich durch nichts von dem Weg abbringen lassen, sich mit ihrem Filmen dem Diktat der Zeit zu entledigen – im Kino und im Leben. Ihr zweiter Spielfilm »Charly« erzählt von der Begegnung eines adoleszenten Jungen auf der Flucht mit der kaum älteren Prostituierten Charly. Als Charly in ihrem kleinen Wohnwagen aus Wedekinds Frühlings Erwachen vorliest, finden die beiden Momente perfekter Symbiose. Die Verdichtung des Ortes ermöglicht die Überwindung der Zeit.

»Ihr Spiel steht für rätselhafte Undurchdringlichkeit, der Blick aus schmalen Augen und das minimale Zucken ihrer oft leicht geöffneten Lippen sind zur Projektionsfläche geworden, zum Rätselbild. Außenseiter, radikal Freiheitsuchende sind auch die Figuren, die Isild le Besco in ihren eigenen Filmen porträtiert.« Tagesspiegel

Schon als Schauspielerin hat sie in ihrem Spiel und ihrer Erscheinung ein Enigma auf die Leinwand gebracht, das sich dem Versuch einer Beschreibung beharrlich widersetzte. Benoît Jacquot, der sie 17-jährig entdeckte und ihr Mentor wurde, feierte sie als »engelhaftes Wesen« und »chinesische Prinzessin mit blauen Augen«. Cédric Kahn bezeichnete sie als »einzigartig, untypisch, zeitlos« und Jean-Luc Godard lud sie, nachdem er »Demi-Tarif« sah, ein, sich ihm in die Reihen der »einsamen Wölfe« anzuschließen.

Ihr dritter Spielfilm »Bas-Fonds« feierte seine Premiere 2010 in Locarno und Anfang 2011 widmete ihr die Lincoln Film Society in New York eine Werkschau. Die New York Times titelte »The Wild Child of French Cinema« und die junge französische Filmemacherin festigte ihren Nimbus als die berühmteste Filmemacherin unbekannter Filme, eine Referenz, mit der sie dem von ihr verehrten Chris Marker drei Jahre zuvor in den Credits von »Charly« eine liebevolle Widmung schrieb. Ganz wie bei Chris Markers Werk bleibt Isild Le Besco dem essayistischen Erzählen eng verbunden. Die Form kann nur existieren, wenn sie nicht definierbar ist. Ihr Werk als Filmemacherin kreist seit »Demi-Tarif« nicht nur inhaltlich um diesen unbedingten Ausdruck von einer Sicht auf die Welt, die durch nichts als den eigenen Blick gelenkt wird. Das Königreich der Kindheit.

Der Fluss ihrer Erzählungen ist so natürlich, niemals glaubt man, ein Konstrukt zu entdecken, niemals kann man sich aus der Erzählung herauslösen und als Betrachter einer Story wiederfinden, in der man die technische Entstehung des Films bemerkt. Es ist, als würde die Ratio gänzlich dem Instinkt weichen und die Schönheit, die Fragilität ihrer Filme erzählen von der Schönheit und Fragilität des Lebens. Instinkt bedeutet Vorwärtsbewegung. Wenn man es schafft, sich darauf einzulassen, erinnert uns Isild Le Bescos Kino an das Leben, den Moment, das schiere Gefühl. Man ist nicht im Kino, man erlebt Kino.

Demi-Tarif (Frankreich 2004)

Drei Geschwister – zwei Mädchen und ein Junge im Alter von sieben, acht und neun Jahren –auf sich allein gestellt in einer heruntergekommenen Pariser Wohnung. Jedes Kind hat einen anderen Vater, und ihre abwesende Mutter gewährt ihnen beispiellose Autonomie. Ohne Regeln oder Grenzen plündern sie Läden, entfliehen in nächtliche Abenteuer, fahren ohne Ticket U-Bahn und schleichen sich in Kinosäle, um ihrer zunehmend misstrauischen Lehrerin zu entkommen. Die Handkamera von Le Besco wird zu ihrem Begleiter und Vertrauten, während eine geheimnisvolle Off-Stimme die Ekstase einer Kindheit beschwört, die von Autorität befreit ist. Gedreht mit einem bescheidenen Budget, sorgte das Regiedebüt in Frankreich für Aufsehen und veranlasste den renommierten Filmemacher Chris Marker, die Auswirkung des Films mit Jean-Luc Godards »Außer Atem« zu vergleichen. Isild Le Besco fängt auf packende Weise die ungeskripteten Interaktionen zwischen Kindern ein, wobei die drei jungen Schauspieler Geschwisterdynamiken des Neckens, Herausforderns und Beschützens meisterhaft darstellen. In seiner Erkundung der unkontrollierten Freiheit hallt der Film als mitreißende Erfahrung nach, die sowohl die Essenz der Kindheit einfängt als auch Fragen nach der Rolle von Autorität und Liebe aufwirft.

Charly (Frankreich 2007)

Bei seinen Pflegeeltern in der Provinz lebt der vierzehnjährige Nicolas ein liebloses Leben in einer heruntergekommenen Behausung ohne Antrieb und ohne Träume. Eines Tages nimmt er das versteckte Ersparte der ziellos lebenden Alten und rennt davon. Eine Postkarte definiert sein Ziel: das Meer. Unterwegs trifft er Charly, eine Gelegenheitsprostituierte, kaum älter als er. Sie nimmt ihn auf in ihrem kleinen Wohnwagen, in dem sie penibel Ordnung hält. Charly verlangt von ihm, sich im Haushalt nützlich zu machen, während sie arbeiten geht. Sie reden nicht, aber er bleibt. Sie kommen sich näher, als sie ihm aus Wedekinds Frühlings Erwachen vorliest, entsteht ein gemeinsames Verständnis, ein Moment der sich über die beiden legt und imstande ist, die Zeit für einen Moment anzuhalten. Die Begrenzung des Raumes schafft die größtmögliche Freiheit. Das Meer ist ein Stück näher gerückt. Es ist nicht nur diese Geschichte zwischen Kindheit und Erwachsenenwelt, auch die Inszenierung Le Bescos erzählt von einer Befreiung von den klassischen Erzählmustern, von der Konditionierung des Blickes und der Erwartungshaltung und wie wir uns mit Charly und Nicolas davon befreien können.

Bas Fonds (Frankreich 2010)

Drei junge Frauen in einer völlig verwahrlosten Wohnung, zwei Schwestern und ein Mädchen, das sich offenbar vor längerer Zeit in die ältere der Schwestern verliebt hatte. Am Anfang steht der Alltag aus Ladendiebstahl, Besäufnissen und Ravioli im Haar. Ein Dildo steht auf dem Fernseher, grobe Pornopixel füllen die gesamte Leinwand. Magalie, die ältere Schwester, dominiert die zwei Jüngeren, terrorisiert sie, spielt sie gegeneinander aus, und erschießt bei einem Raubüberfall aus Versehen einen jungen Bäcker. Und das ist erst der Anfang vom Ende. »Bas-Fonds«, das ist der menschliche Abgrund, in dem die drei Mädchen in Isild Le Bescos inzwischen drittem Spielfilm längst stecken und dessen Abwärtsspirale sie direkt ins Fegefeuer blicken lässt. In seiner tabulosen und ausweglosen Brutalität steht »Bas-Fonds« in der Tradition extremer Frauengeschichten wie Oliver Stones »Natural Born Killers« oder Virginie Despentes’ und Coralies »Baise-Moi«. Eine konsequente Tour de Force in Bildern und Momenten von explosiver Energie hat die junge französische Schauspielerin und Regisseurin geschaffen, in der sich Reflexe einer bürgerlichen Ordnung in den Dynamiken einer extremen ménage à trois aufreiben.

La Belle Occasion (Frankreich 2017)

Der Beginn ist ein Versprechen. Ein Prolog, der uns direkt in ein Märchen entführt. Eine Gruppe Kinder liegt eng beieinander, fast übereinander in einem Bett, während ein Kinderlied mit sanfter Stimme den Beginn einer magischen Märchenreise ankündigt. Wieder ist es eine Kinderwelt, die Isild Le Besco als einen verführerischen Sehnsuchtsort erzählt. Die Geschwister Ravi und Sarena leben in einem Caravan und arbeiten in einem Zirkus. Ihr tristes Leben unter der Vormundschaft ihres kränkelnden Vaters nimmt eine unerwartete Wendung, als Ravi auf ein stummes, rätselhaftes Mädchen trifft. Bezaubert vom Charme des Stallburschen folgt sie ihm zu seinem Wohnwagen, bekommt Angst, als er sie einfangen will, läuft weg, kehrt zu ihm zurück und lädt dann seine ganze Truppe ein, sich bei ihr auf ihrem Schloss, dass sie alleine bewohnt, niederzulassen. Eine Utopie aus dem Königreich der Kinder entspinnt sich zart und mysteriös, bis hin zu einem wunderschönen erotischen Finale.

Confinés (Frankreich 2023)

Der Moment, in dem Emmanuel Macron in einer Videoansprache den Corona-Lockdown verkündet, trifft Zina und ihre Geschwister wie eine Links-Rechts-Kombination. Sie werden nicht nur aus ihrem gewohnten Alltag gerissen, sie sind nun auch Gefangene ihres zu Gewaltausbrüchen neigenden Vaters. Die lauten, oft handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen ihren Eltern sind nichts Neues für sie. Doch der Lockdown liefert sie der Tyrannei ihres Vaters ununterbrochen aus. Es gibt keine Stunden der Sicherheit mehr. Es ist viel über den Anstieg häuslicher Gewalt in den Jahren der Corona-Epidemie berichtet worden. Aber die klaustrophobischen Bilder, in denen Isild le Besco ein Gefühl des absoluten Ausgeliefertseins heraufbeschwört, lassen all das verblassen. Le Besco's Drama entwickelt jedoch nicht nur eine schon körperliche Dringlichkeit. Es öffnet sich immer wieder für poetische Momente und Augenblicke eines fast schon paradiesischen Glücks. Aus ihnen erwächst eine Hoffnung, wie sie nur große Kunst vermitteln kann.