Retrospektive Dominik Graf

Die zärtliche Geographie des Kinos

»There’s a crack, a crack in everything / That’s how the light get in« heißt es in Leonard Cohens Song »Anthem «. Da ist ein Riss, ein Riss in allem, und der Riss in der Geschichte des deutschen Kino- und Fernsehfilms seit den späten 1970er, frühen 1980er Jahren sind die Arbeiten von Dominik Graf. Sie stehen quer zu den anderen Fernseh- und Kinoproduktionen, die sie umgeben.

Das war schon so bei »Treffer« (1984), einem Film, der ursprünglich für den WDR gedreht worden war und dann nach seiner ersten Ausstrahlung im Fernsehen in die Kinos gekommen ist. Ein seltener, fast schon unerhörter Vorgang und zugleich ein untrügliches Zeichen für die Kraft, die von Dominik Grafs Geschichte um drei von Freiheit träumende junge Männer aus der südwestdeutschen Provinz ausgeht. Ein Film wie ein melancholischer Song über das Erwachsenwerden in einer Stadt ohne Zukunft. Fast glaubt man, aus jeder
Einstellung die Stimme eines Bruce Springsteens zu hören.

Auch das ist ein Merkmal des Risses, den Dominik Grafs Filme markieren. Sie bringen tatsächlich immer wieder ein anderes Licht in die oft so hermetische, nur auf sich selbst bezogene Filmlandschaft der Bonner und später der Berliner Republik. Filme wie »Treffer«, »Die Katze« (1988), »Spieler« (1990), »Die Sieger«(1994), »Hotte im Paradies« (2002), »Eine Stadt wird erpresst« (2006), »Das unsichtbare Mädchen« (2011) und schließlich »Fabian oder Der Gang vor die Hunde« (2021) sind ebenso wie die Episoden, die Dominik Graf für Fernsehserien wie »Der Fahnder«, »Tatort« oder »Polizeiruf 110« gedreht hat, fest in der jeweiligen deutschen Wirklichkeit verankert. Zusammen schreiben sie eine Gesellschafts- und Mentalitätsgeschichte der zehn Jahre vor der Wiedervereinigung und der Jahrzehnte seither. Wer wissen will, wie es war in Deutschland und wie es sich gerade jetzt anfühlt, dort zu leben, muss sich nur seine Filme ansehen.

Aber, und damit sind wir bei dem Licht, das durch den Riss eindringen kann, keiner von Dominik Grafs Filmen fühlt sich »deutsch« an. Sie alle sind durchdrungen vom Kino der Welt, vom Geist französischer Gangsterfilme und US-amerikanischer B-Movies, italienischer Gialli und der Neuen Wellen, die das osteuropäische Kino der 1960er und 70er Jahre erfasst hatten. Sie strahlen eine Offenheit, eine absolut selbstverständliche Internationalität aus, die jedoch nichts Beliebiges hat. Alle Einstellungen, alle Schnitte und vor allem auch alle Zooms in Dominik Grafs Werken folgen einer künstlerischen Logik. Form ist hier nie nur Form, in ihr drückt sich immer ein Gedanke aus, eine Idee von Welt und Wirklichkeit. Auch das macht seine Arbeiten so einzigartig.

Als »Der Felsen«, sein erstes großes Experiment mit den Möglichkeiten digitaler Kameras, 2002 seine Premiere im Wettbewerb der Berlinale erlebte, schlug ihm eine schon an Hass grenzende Ablehnung entgegen. Grafs atemberaubender Umgang mit der Textur digitaler Bilder stieß auf Hohn und Unverständnis. Dabei liegt in den sich vor den Augen des Publikums regelrecht aufzulösen scheinenden Bilder eine Kraft, die unser Bewusstsein verändern kann. Wie alle großen Meisterwerke der modernen Kunst, die Epochenbrüche
signalisiert haben, regt einen auch »Der Felsen« dazu an, die Welt anders zu betrachten. Das ist heute mehr als 20 Jahre später offensichtlich. Mit ihm war Dominik Graf seiner Zeit einmal mehr voraus. Zugleich deutete sich in den Bildern dieses Films ein Weg an, den das deutsche Kino damals zu Beginn des 21. Jahrhunderts durchaus hätte einschlagen können.

Gut zehn Jahre vorher war das schon einmal so. Mit »Spieler«, seiner ebenso verspielten wie widerspenstigen Ode auf die Kompromisslosigkeit der Liebe, hat Dominik Graf die Welle all der deutschen romantischen Komödien eingeleitet, die das heimische Kino in den 1990er Jahren so geprägt hat. Doch auch dieser Film ist nichts anderes als ein Riss. Grafs Vision einer Liebe, die nur bestehen kann, wenn sie mit einer absoluten Freiheit einhergeht, glich einem anarchistischen Angriff auf genau die kapitalistischen Werte und konservativen
Vorstellungen, die die deutschen Beziehungskomödien nur wenig später in Filmbilder wie in Zement gegossen haben.


Das Licht, das Dominik Grafs Filme in das bundesrepublikanische Kino hineingelassen haben, hat die dunklen Schatten von Restauration und Affirmation des Status quo zwar nicht vertreiben können, aber es hat sie  auf beinahe schon revolutionäre Weise sichtbar gemacht. In einem Gespräch mit dem Filmkritiker Olaf Möller hat Dominik Graf bekannt: »Letzten Endes habe ich den Eindruck, dass das, was speziell ich will oder was mir am meisten Freude macht, in seiner Reinheit eben doch nur in der Konfektionsware zu finden ist.« Und jede seiner tief in den Traditionen unterschiedlichster Filmgenres verwurzelten Arbeiten bestätigt diesen Eindruck. Seine Thriller, seine Historienfilme wie »Das Gelübde« (2007), »Die geliebten Schwestern« und »Fabian«, seine Komödien und seine (Melo-)Dramen finden in den Konventionen ihrer jeweiligen Genres eine Freiheit, die es so eben nur in einem vorgefertigten Rahmen geben kann. Eine Freiheit, die darin liegt, sich
nicht einengen zu lassen und genau zu wissen, wie weit sich Grenzen verschieben lassen. So erinnert einen jeder Film von Dominik Graf daran, dass die Welt durchaus veränderbar ist. Das ist eben tatsächlich ein Riss, ein Riss in allem, durch den das Licht wahrer, also subversiver Freiheit einfällt.

Treffer

Eine Stadt irgendwo im Südwesten der Bonner Republik. Es ist die Zeit, in der
Helmut Kohl die »geistig-moralische Wende« ausrief und sich die BRD gleich
noch viel kleinbürgerlicher und enger anfühlte. Für Kohls Idee der Erneuerung
Westdeutschlands, die einer Restauration glich, interessieren sich Albi, Franz
und Tayfun nicht. Aber das Spießige und Trostlose der Provinz sind ihnen nur
allzu vertraut. Dem wollen sie auf ihren Motorrädern entkommen, als würde
der Fahrtwind gleich auch ihr Leben entlüften. Doch die Abzahlungen für ihren
Kredit drücken ihnen mehr und mehr die Luft ab. Als sie dann noch ihre Jobs in
einer Autowerkstatt verlieren, geraten sie in einen Strudel der Ereignisse, der
nur in einer Tragödie enden kann. Etwas von dem Geist der US-amerikanischen
Biker-Filme der 1950er und 60er Jahre durchweht »Treffer«. Eine auch heute,
40 Jahre später, noch schmerzliche Sehnsucht erfüllt dabei Dominik Grafs
Film, der fürs Fernsehen entstanden ist, aber seinen Weg ins Kino gefunden
hat. Eine Sehnsucht, die aus der unglaublichen Dichte erwächst, mit der Graf
den westdeutschen Alltag in den frühen 1980er Jahren einfängt. Kein anderer
Film hat dabei die Tristesse der BRD so klar und künstlerisch so überwältigend
eingefangen wie dieser.

Die Katze

Als Dominik Grafs Thriller um einen Bankraub und eine minutiös geplante Geiselnahme Anfang 1988 in die Kinos kam, war er nichts weniger als eine Sensation. Einen derart präzisen, derart coolen Genrefilm mit Starbesetzung hatte es im westdeutschen Kino lange nicht mehr, vielleicht auch noch nie gegeben. Und seither hat er nichts von seiner Strahlkraft verloren. Die Zeit kann ihm allem Anschein nach ebenso wenig anhaben wie den Gangsterfilmen
eines Jean-Pierre Melville oder den Noirs eines Fritz Lang. Probek, ein von Götz George gespielter Profi, der Robert De Niros Figur in Michael Manns »Heat« vorwegzunehmen scheint, hat einen nahezu perfekten Plan. Während zwei Komplizen von ihm Geiseln in einer Bank nehmen, beobachtet und dirigiert er das Geschehen von seinem Hotelzimmer aus. So ist er seinem Gegenspieler, Hauptkommissar Voss, lange immer einen Schritt voraus. Dennoch hält er längst nicht alle Fäden in seinen Händen. Auf fast schon magische Weise wahrt Dominik Graf die Balance zwischen Kontrolle und Ekstase. Jede Einstellung, jeder Schnitt folgt einer grandiosen Ökonomie. Hier ist nichts zu viel, alles fügt sich perfekt zusammen. So entwickelt »Die Katze« einen wahrhaft rauschhaften Sog.

Die Spieler

Gleich zu Beginn widerspricht eine Stimme aus dem Off Kathrin und ‚Jojo‘. Die beiden hatten eben noch beteuert, dass sie sich nicht wirklich ineinander verliebt haben. Doch der Erzähler weiß es besser und macht das Kinopublikum zu Mitwissenden, zu Komplizen in einem ganz besonderen Spiel. Von diesem Augenblick an ist alles möglich. Regeln und Gewissheiten gibt es keine in dieser ausgelassenen Hommage an die französische nouvelle vague. Eine schier
übermächtige Sehnsucht nach Freiheit treibt eben nicht nur den von Peter Lohmeyer verkörperten Spieler ‚Jojo‘ und seine 18-jährige Cousine Kathrin (Anica Dobra) an. Sie durchdringt auch jede noch so kleine Szene dieses Films, der sich ganz den Widersprüchen und dem Wahnsinn der Liebe hingibt. Wie die beiden Liebenden, die auf ihre Gefühle setzen wie auf Zahlen am Roulettetisch, die jeden Kuss, jede Berührung in eine Wette verwandeln, deren Einsatz nicht hoch genug sein kann, geht auch Dominik Graf ganz auf Risiko. Ein selbstironisches Augenzwinkern scheint jeden Moment in diesem wunderbar ungestümen
Roadmovie, das von München an die Côte d’Azur führt, zu begleiten. Und doch trifft »Spieler« mitten ins Herz einer Gesellschaft, für die Freiheit eigentlich nichts als Erfolg und Geld bedeutet.

Die Sieger - Director's Cut

Beinahe 25 Jahre lang war »Die Sieger« ein verhindertes und zugleich verkanntes Meisterwerk. Die Eingriffe von Seiten der Produzenten und des Verleihs hatten Dominik Grafs Vision 1994 zwar nicht zerstört, aber zumindest beschädigt. Wer wollte, konnte allerdings schon damals sehen, dass dieser Polizeifilm und Verschwörungsthriller um eine Düsseldorfer SEK-Einheit und einige mächtige, im Hintergrund agierende Politiker, ein großer, im deutschen
Kino wahrhaft solitärer Wurf war. Wie Graf Genrekonventionen bedient und zugleich weit hinter sich lässt, hat etwas Atemberaubendes. Im Vergleich zu »Die Katze«, dieser extrem konzentrierten, fast schon minimalistischen Genrestudie, wirkt »Die Sieger« geradezu barock, vor allem in der 2019 endlich veröffentlichten ›Director‘s Cut‹-Fassung. Immer wieder nimmt sich Graf die Zeit und den Raum, die es braucht, um diese Geschichte von Besessenheit
und Verrat, Vertuschung und Korruption, aufzubrechen, mal durch Bilder, die eine geisterhafte Atmosphäre schaffen, mal durch Szenen, die die Abgründe der SEK-Männer ausloten. Aus einem von Gewalt und Paranoia durchzogenen Porträt einer Gruppe innerlich zerbrochener Männer wird das Panorama einer ganzen Gesellschaft, die sich und ihren Weg verloren hat.

Hotte im Paradies

»It’s hard out here for a pimp« singt Terrence Howard auf dem Soundtrack von Craig Brewers »Hustle & Flow«. Auch für Hotte, der sich in Berlin-Charlottenburg als kleiner Zuhälter durchschlägt, ist es meist eher hart. Aber das interessiert den von Mišel Maticevic gespielten Überlebenskünstler nicht sonderlich. Für ihn ist es ein Zeichen von Professionalität, das Leben so leicht wie nur möglich zu nehmen. Also jagt er wie all die anderen Gangster und Luden
um ihn herum dem Geld nach, nur um es dann sofort wieder zu verprassen. Als die russische Mafia ihm Jenny, seine erfolgreichste »Mitarbeiterin«, abwirbt, bricht das fragile Gleichgewicht seines Lebens allerdings in sich zusammen. Wie Hotte balanciert auch Dominik Graf mit diesem Fernsehfilm auf einem sehr schmalen Grat. Auf der einen Seite erkennt er in dem sensiblen Zuhälter, der die Frauen trotz allem ohne jeden Skrupel ausbeutet, einen romantischen Rebellen, der sich der Logik der bürgerlich-kapitalistischen Wirklichkeit konsequent entzieht. Auf der anderen zeichnet er das Milieu seiner Figuren in all seiner Kaputtheit nach und findet dafür unvergessliche und unvergesslich raue Videobilder, die diese Kaputtheit auf eine dunkel schillernde Weise spiegeln.

Fabian oder Der Gang vor die Hunde

Ruhig gleitet die Kamera durch eine Berliner U-Bahnstation. Ihr Weg führt entlang der Gleise und schließlich eine Treppe hoch ins Tageslicht. Als sie dann auf der Straße ankommt, schreiben wir das Jahr 1931. Die Kamerafahrt als Zeitreise von der Gegenwart in die späte Weimarer Republik. So setzt Dominik Graf gleich in der allerersten Sequenz seiner Verfilmung von »Fabian oder der Gang vor die Hunde« ein Zeichen. Die Welt von Erich Kästners Roman ist nicht verschwunden, sie lebt weiter in und unter unserer alltäglichen Wirklichkeit.
»Fabian« bricht radikal mit all den glatten, ihre Vorlagen schamlos ausschlachtenden Literaturadaptionen, die das deutsche wie das internationale Kino regelrecht überschwemmen. Graf bleibt zwar nah an Kästners Roman über einen idealistischen Zyniker, der es nicht schafft, aus seiner Rolle als Beobachter herauszukommen und zum Handelnden zu werden, und erzählt dabei eine herzzerreißende Liebesgeschichte. Aber er geht auch immer wieder über
seine Vorlage hinaus. In seinen radikalsten Augenblicken, die ganz beiläufig den Aufstieg der NSDAP und den Zerfall der Weimarer Gesellschaft in den Fokus rücken, gleicht »Fabian« einem avantgardistischen Essay über die Saat der deutschen Vergangenheit, die gerade wieder aufzugehen scheint.

Masterclass

Dominik Graf - Ein Gespräch übers Kino

Dominik Graf ist nicht nur einer der bedeutendsten Regisseure und Drehbuchautoren des deutschsprachigen Raums, sondern auch ein großer Cineast, der Kino liebt und kennt, wie kaum ein anderer. Ein Gespräch über sein Werk, im Rahmen dieser Retrospektive insbesondere seine Genrefilme für Kino aber auch TV, wird also zwangsläufig auch ein Gespräch sein über das Kino, die Entwicklung des Kinos und die Implikationen in gesellschaftliche Debatten.

Ende der 1970er Jahre als Teil einer Filmemachergeneration, die sich zum Ziel gesetzt hatte, die Massenunterhaltung zu revolutionieren, betrat Dominik Graf die Bühne des Films. Viele seiner Arbeiten entstanden für das Fernsehen, seine Arbeiten für die Serie »Der Fahnder« wurden immer wieder zu Blaupausen für größere Genreproduktionen und haben schon seine besondere Vorliebe dafür gezeigt, mit Autoren zusammen zu arbeiten, mit denen sich ein Einklang in der Ökonomie des Erzählens finden ließ. Was das französische Kino ganz respektvoll »Policiers« nennt, wurde zum Rückgrat seines Werkes, das sich im Laufe der Jahrzehnte in immer weitere Genre- und Ausdrucksbereiche verzweigte, darunter essayistische Dokumentarfilme, hochmoderne Melodramen und Ausstattungsfilme wie »Geliebte Schwestern«.

Ein Moderator mit Lust an klarer Sprache und ohne Angst vor Streitbarem wird durch das Gespräch führen: Rüdiger Suchsland, meinungsfreudiger Filmkritiker für Print, Radio, Online, zugleich Filmregisseur, Autor und ein aus etlichen Gesprächen mit Dominik Graf langjähriger Bekannter.