The child of nouvelle vague
Retrospektive Christophe Honoré
Die ganz großen Stürme liegen erstmal hinter der kleinen Sophie. Das Schicksal hat es dann doch noch gut mit dem innerhalb eines Jahres zur Waise gewordenen Mädchen gemeint. Fortan muss sie nicht mehr bei ihrer strengen Stiefmutter leben, sondern kann den Rest ihrer Kindheit auf dem Landsitz von Madame de Fleurville, einer Freundin ihrer Mutter, genießen. Als sie dort mit einer Kutsche ankommt, regnet es stark. Trotzdem eilt sie nicht wie die anderen los, um ins Trockene zu kommen. Sie bleibt vielmehr vor dem kleinen Schloss stehen, wirft ihren Schirm weg und beginnt, auf dem Rasen zu singen und zu tanzen.
Ein zauberhaftes happy ending für einen wunderbar leichten und doch zutiefst berührenden Familienfilm. Aber diese kleine, mit einem schelmischen Augenzwinkern in Szene gesetzte Musical-Nummer, die »Les malheurs de Sophie«, Christophe Honorés Adaption zweier Kinderbücher der Comtesse de Ségur, krönt, ist noch viel mehr. Man darf sie ruhig als Bekenntnis und vielleicht sogar als ein Selbstporträt des 1970 geborenen Filmemachers lesen. Bevor Sophie ihren mitreißenden ›Singin‹ in the Rain‹-Moment erlebt und dabei immer wieder direkt in die Kamera blickt, schwärmt Madame de Fleurville von ihrer »wilden Neugier auf die Welt«. Und eben diese »wilde Neugier«, diese unstillbare Sehnsucht, immer wieder etwas Neues und Anderes auszuprobieren, statt den sicheren, also abgesicherten Weg zu gehen, teilt Christophe Honoré mit seiner Heldin Sophie.
Schon Honorés Kinodebüt »17 fois Cécile Cassard«, ein aus Splittern zusammengesetztes Porträt einer Frau, die nach dem Tod ihres Mannes in ihrer Trauer versinkt, war 2002, im Jahr seiner Premiere bei den Filmfestspielen von Cannes, ein außergewöhnliches Versprechen. Es weckte enorme Erwartungen. Schließlich zeugte dieses melancholische Film-Puzzle nicht nur von Honorés bemerkenswertem Gespür für die Stärken seiner Darstellerinnen und Darsteller. Es ließ zudem eine wirklich eigenständige künstlerische Stimme erkennen. Die 17 Szenen des Films fügen sich keineswegs bruchlos zusammen. Sie sind Momentaufnahmen, erkennen. Annäherungen an Stimmungen und Emotionen, die sich in Bilder, aber kaum in Worte fassen lassen. Einer Handlung im klassischen Sinne verweigert sich »17 fois Cécile Cassard« konsequent. An ihre Stelle tritt etwas Anderes, weitaus Wertvolleres: eine eigensinnige Freiheit. Für Christophe Honoré ist das Kino eben keine Maschinerie, die nur den Zweck hat, die meist eher simplen und standardisierten Wünsche und Sehnsüchte des Publikums zu bedienen.
Selbst »Les bien-aimés«, dieses große, starbesetzte Musical, hat im Kern etwas extrem Widerständiges. Natürlich verbeugt sich der französische Filmemacher und Autor, der einst auch für die »Cahiers du cinéma«geschrieben hat, mit dieser mehr als vier Jahrzehnte umspannenden Familiengeschichte, in der Catherine Deneuve und ihre Tochter Chiara Mastroianni Mutter und Tochter spielen, vor Jacques Demy. Dessen große Musicals aus den 1960er Jahren, »Les parapluies de Cherbourg« und »Les demoiselles de Rochefort«, die Catherine Deneuve einst berühmt gemacht haben, hallen in »Les bien-aimés« nach. Dennoch entzieht er sich jener gefälligen Retro-Nostalgie, die so typisch für das Kino und die Pop-Kultur des 21. Jahrhunderts geworden ist.
Christophe Honoré lässt nicht einfach eine alte Mode noch einmal aufl eben. Er greift sie auf, um sie dann aus dem Geist unserer Zeit ganz neu zu erfi nden. Jeder seiner Filme ist fest in der Geschichte des Kinos verwurzelt. So wecken »Ma mère«, sein transgressives Porträt einer inzestuösen Mutter-Sohn-Beziehung, und »Métamorphoses«, seine zeitgenössische Verwandlung Ovids antiker Verwandlungsmythen, Erinnerungen an Pier Paolo Pasolini, während »Dans Paris« und »Les Chansons d’amour« vor allem von den Heroen der nouvelle vague geprägt sind. Aber sie alle haben eine eigene, unverwechselbare Kraft. Honoré nimmt sich genau dieFreiheit, die in den 1960er Jahren mit den neuen Wellen und großen Bewegungen Einzug ins Kino gehalten hat. Denn sie gibt ihm wiederum eine andere Freiheit. Das Erbe der nouvelle vague und die Traditionen des französischen queer cinema fließen in seinen Werken zusammen und werden zugleich von ihm transzendiert. Oder anders: Was fließt, verwandelt sich, und was sich verwandelt, bleibt lebendig.
Honorés Geschichten von Liebe und Trauer, von unerwiderten Gefühlen und verlöschenden Leidenschaften, von zerbröckelnden Familien und wechselnden Bindungen erzählen immer wieder von Dreiecken. Die Konstellationen ändern sich. Mal sind es zwei Frauen und ein Mann, mal zwei Männer und eine Frau. Doch eins ist diesen alternativen Formen von Beziehungen gemeinsam. In ihnen deutet sich eine Utopie von einem anderen Zusammenleben und einer anderen, nicht mehr eindeutig festgelegten Sexualität an. Etwas ist wie einst schon in Ovids »Metamorphosen« im Fluss und entwickelt gerade dadurch eine subversive Kraft. Christophe Honorés Filme brechen mit überkommenen Vorstellungen, und selbst wenn seine Protagonisten oft ihr flüchtiges Glück nicht festhalten können, bleibt da doch ein Stachel. Sein Werk erinnert uns daran, was sein könnte, im Leben wie im Kino, und weckt so eine »wilde Neugier«. Wir alle können Sophie sein, wenn wir nur wie ihre Freundinnen, die Töchter von Madame de Fleurville, diese »Petites filles modèles«, den Mut aufbringen, mit ihr gegen alle Konventionen im Regen zu tanzen.